Mein Tbilisi

Mein Tbilisi

Ich nenne dieses Kapitel meiner kleinen Reihe „Georgien entdecken“ bewusst „Mein Tbilisi“. Denn zu dieser Stadt hat vermutlich jeder, der schon einmal in Georgien war, seine eigene Meinung. Um es vorwegzunehmen: bei mir ist es eine Hassliebe.

Tbilisi ist die Georgische Hauptstadt und stellt einen ziemlich großen Kontrast zum eher ländlichen Rest von Georgien dar. Es fühlt sich manchmal wie ein Konzentrat Georgiens an. Im Sommer heiß wie eine Bratpfanne, laut und stickig am Nachmittag, entspannt in den Morgenstunden. Ein gutes Drittel der Einwohner Georgiens lebt in der Hauptstadt und bildet sich auch etwas darauf ein. Ist in Deutschland mit Berlin auch so.

Wer mit dem Flugzeug in die georgische Hauptstadt reist, wird gleich bei der Landung merken: dieses Land ist nichts für Weichgespülte. Man blickt übermüdet aus dem Fenster, während das Flugzeug über die groben Betonplatten der Landebahn und des Vorfeldes scheppert und einen entweder die letzten oder die ersten Sonnenstrahlen des Tages entgegenblitzen. Man wird zwangsweise mit einer zentralen Frage konfrontiert, die man in Georgien generell nicht so oft stellen sollte: Warum. In diesem Fall: Warum kann man eigentlich nicht tagsüber nach Tbilisi fliegen. Ich bin zumindest in den letzten 13 Jahren nur ein einziges Mal tagsüber in Tbilisi gelandet oder von dort gestartet. Das geht 2023 wieder von sehr vielen Flughäfen in Europa und von Deutschland aus sogar per Direktflug von München, Memmingen, Frankfurt und Berlin.  

Die Wurzel allen Übels – der Verkehr in Tbilisi

Hassliebe ist ja ein komisches Wort. Aber wer in Tbilisi im Auto mitfährt, oder noch besser, selbst fährt, merkt schnell, wie diese Stadt gewachsen und geplant ist – völlig ohne Struktur und versteht das Gefühl, was in einem dann brodelt. Ich habe die Verkehrsführung, die sinnvollen Abkürzungen und Schleichwege und das Wirrwarr aus Autobahnen, Brücken und Abfahrten bis heute nicht verstanden und auch nicht, warum Ampeln manchmal auf der rechten Fahrbahnseite angebracht sind. Der Verkehrsfluss in Tbilisi ist in den letzten Jahren immer stärker zum Erliegen gekommen und der Stau ist bis auf die Zeit zwischen 3 Uhr und 10 Uhr morgens der Dauerzustand. Ansonsten ist es südeuropäisch entspannt. Wer selbst fährt, für den gilt wie auch bspw. in Istanbul: Die Hupe ist wichtiger als die Bremse und man sollte stets reaktionsbereit sein. Das gilt natürlich auch für die anderen Verkehrsteilnehmer, falls man selbst mal wieder bei Rot über die Ampel fährt und nichts passiert. Das Auto ist das allgegenwärtige aber nicht das beste Verkehrsmittel in dieser wild gewachsenen Stadt. Aus Mangel an Parkplätzen kommt man mit dem öffentlichen Busnetz, mit Taxis, mit den Marschrutkas oder auch mit der Metro gut und schnell durch die Stadt. Ganz Verrückte nehmen das Fahrrad aber da brauchen wir noch ein paar Jahre, bis das sicher genug ist um als Empfehlung durchzugehen. Als Street-Photographer gehe ich persönlich am liebsten zu Fuß. Zur Karikala-Festung gibt’s seit ein paar Jahren eine Seilbahn – damit kann man dem Stau tatsächlich entkommen.

Zeit für Architektur aus Jahrhunderten

Man sollte sich auf jeden Fall Zeit nehmen diese Stadt kennen, lieben oder hassen zu lernen. Meistens passiert das sowieso alles gleichzeitig. Tbilisi ist eine sehr alte Stadt, deren Wurzeln bis ins vierte Jahrhundert reichen und wer durch die Straßen dieser Stadt spaziert, erkennt Glanzleistungen und Bausünden aller Epochen. Wer entlang des Mtkvari, die durch die Stadt fließt, spaziert oder mit dem Auto fährt, bekommt einen guten Eindruck davon. Allgegenwärtig sind natürlich die Überbleibsel der Sowjetunion. Die damals modernen Plattenbauten sind vom Volks- zum Individualeigentum überführt worden und verwandeln die früher so einheitliche Architektur in ein modernes Mosaik.  Die brutalistische Betonarchitektur der sozialistischen Jahre wird durch moderne Glasbauten ergänzt, die häufig so billig gebaut sind, dass sie in wenigen Jahren gut ins Bild der Plattenbauten passen werden. Ich bin sicher, die Plattenbauten werden länger halten. Und dann gibt es noch die alten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, viele aus Stein oder Holz und mit Balkons und Innenhöfen. Vor allem in der Altstadt, dem Bäderviertel aber auch im Schatten der Plattenbauten findet man das, was den Charme dieser Stadt ausmacht. Wer das Glück hat einen Tag in einem der grünen Höfe zu verbringen und nur das leise Rauschen des Verkehrs der Stadt zu hören, wird die Hassliebe verstehen.

Überhaupt der Tagesablauf beginnt in Tbilisi etwas später. Vor 10 geht in dieser Stadt nicht besonders viel, dafür pulsiert das Leben bis spät in die Nacht. Es gibt zwischen den Betonwüsten immer wieder kleine Parks, in denen vor allem am Abend viele Leute entspannen, ein Bier trinken oder Eis essen. Restaurants und Cafés gibt es jede Menge und in allen Richtungen. Man sollte vielleicht nicht unbedingt die Touristenfallen der Altstadt als Maßstab nehmen. Wer Georgier kennengelernt hat, sollte mit denen auf die Piste gehen. Aber wie in anderen Metropolen gibt es sie auch in Tbilisi: Die High-Society, in deren Clubs und Restaurants man nur schwer hereinkommt. Viele Restaurants bieten vor allem am Wochenende Live-Musik, Georgier finden hier immer einen Grund zum Feiern. Feiert einfach mit. Die Club-Szene ist mit der in Berlin vergleichbar, hier ist Elektro / Techno der Schwerpunkt. Und wer morgens aus dem Club bei der Bäckerei um die Ecke richtig leckeren Kuchen kauft und dann ungestört bis 10 Uhr schlafen kann, wird diese Stadt wieder lieben lernen.

Das Touristenprogramm – besser nicht?

Wer gerne ein klassisches Touristenprogramm machen möchte, dem empfehle ich die Burgruine der Festung Narikala, das historische Bäderviertel Abanotubani, einen Spaziergang über den Rustavelli-Prospekt, einen Abend-Spaziergang zur Kartlis Deda, der Mutter Georgiens, deren Denkmal über der Altstadt tront und wer mit Kindern unterwegs ist einen Ausflug auf den Mtatsminda-Park, dessen Fernsehturm und Riesenrad gut sichtbar über der Stadt den Abendhimmel erleuchten. Die Thermalquellen sollen richtig toll sein, sie stehen noch auf meiner Tbilisi-To-Do-Liste. Und natürlich ist auch die noch gar nicht so alte Dreifaltigkeitskathedrale einen Besuch wert. Das alles sollte man sich anschauen. Man muss es aber nicht alles bei einem Besuch anschauen, denn soviel sei versprochen. Wer einmal in Georgien war, kommt sowieso nochmal. Mindestens einmal, meistens noch öfter!

Denn eigentlich geht es bei Tbilisi nicht so sehr um die klassischen Sehenswürdigkeiten sondern darum eine Stadt kennenzulernen, die wie ein Lebewesen bebt und pumpt, die laut und staubig ist einen ziemlich aufregen kann und in der man am Ende eines langen Tages entspannt im Schatten eines Baumes in einem der vielen Cafés bei einem hervorragenden Georgischen Wein oder einem Bier einen Tag ausklingen lassen kann.

Vielleicht noch ein Zusatz für die deutscheste aller Sorgen: Sicherheit. Bei einem Spaziergang durch Berlin wird man an einem Tag nicht so viel Polizei sehen wie in Tbilisi in einer Stunde. Ich habe die Stadt immer als sicher empfunden, wenn man aufpasst, wo man hintritt, wenn man beim über die Straße gehen wirklich genau hinschaut (Zebrastreifen sind lediglich Farbtupfer auf einer Straße aber ohne jegliche Bedeutung für den Straßenverkehr) und wenn man sich benehmen kann.  Und wem das Autofahren in Tbilisi zu stressig ist, der lässt einfach jemanden anderes fahren. Dann bleibt mehr Zeit zum aus dem Fenster schauen und zum Staunen. Denn jedes mal, wenn man wiederkommt, bleibt alles anders. Jedesmal.

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